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Familien

simulakrum, Video, © Wolfgang Mennel

Music by Dream-Protocol from Pixabay

kann sein

Welches Bild sehen Sie kurz vor dem Erwachen, im Erwachen. Welches Gesicht erscheint hinter Ihrem Gesicht? Keiner hat sich bis zum heutigen Tag selbst gesehen.
Näher als bis zum Spiegelbild ist niemand gekommen. Vielleicht rührt die kunsthistorische wie auch die smartphonische Faszination fürs Portrait von daher: im Angesicht des anderen nachforschen, wie man selber aussieht.

Wer den anderen ansieht, merkt wie flüchtig, wie unsicher, wie ziellos der eigene Blick ist und wie, im Gegenschuss, unstet das Gesicht gegenüber, als wäre es ein Kerzenlicht, ein Irrlicht, die Reflexion einer Wasseroberfläche.
Das Portraitbild und besonders das Portraitfoto friert das Gesicht ein. In diesem Zustand kann man es lange und ungestört betrachten, schamlos direkt und mit offenem Visier. Aber eben immer nur diesen einen Moment der Darstellung, diese Hundertstel aus dem endlosen Lauf. Bedingung fürs gestochen scharfe Portrait ist die Bewegungslosigkeit, die Starre des Portraitierten (1/250 sec Totenstarre mitten im Leben).

Das Portrait als Simulakrum zeigt nicht das gewünschte Selbst-Bildnis. Die Abbildungen sind Zeichen eines Menschen. Da ist kein Albrecht D. mehr, der sich als gottgleicher Schöpfer der Bilder begreift, die eine reale Existenz beweisen sollen. Ich sehe Simulakren als zeitweise Realisationen, Festschreibungen, Worte in einem Gespräch: kurz meint man etwas erfasst zu haben, eine Präsentation bekommt Präsenz. Aber es gibt kein finales, kein gültiges Bild nur Präsentationsformen, Zwischenähnlichkeiten; für einen Bruchteil, einen Knitterabstand ersetzt die Präsentation den Menschen. Der Maler Daniel Richter sagt: „Man sieht in der Darstellungsweise von Körpern das Menschenbild des Künstlers.“

Kann gut sein. Dargestellte Körper sind immer sowohl künstlich wie künstlerisch deformiert, man soll die Trauben ja nicht essen können. Alles ist Index, alles ist etwas für etwas anderes und jemand anderen zu anderer Zeit. Die Verbindung vom Index zum Indexierten ist jedoch keine Einbahnstraße und nur ohne GPS zu finden. Sehe ich die Menschen als deformierte? Eher nicht. Deformation ist nicht das Ergebnis und die Umsetzung von Gedanken, sondern die pure Aktion: das Umsetzen. Muss man nicht immer zerstören, um Neues bauen zu können? Nicht Ver-Formung sondern Formung, gleich einem Bildhauer, der in roher Masse ein Bild sucht und es dann herausbildet.

Für mich ist das ein Akt der Zuwendung, aber auch ein politischer Akt: sich einem Menschen zuwenden. Politisch auch deshalb, weil es nicht mein Ziel ist, einen authentischen Menschen in seiner einmaligen Identität zu finden. Authentizität als Norm, erscheint mir autoritär, wenn nicht gar totalitär. Lieber widerständig sein, nicht der Norm zugewandt sondern der Abweichung, der eigenen KI im Spiel vertrauend. Ich betrachte Menschen und stelle mir vor, was sein könnte, was er oder sie gewesen ist und sein und werden könnte, was ich und andere in ihm oder ihr einmal gesehen haben oder sehen werden. Das Potential zu entdecken, das kein Identitätsautomat je heben wird, das menschliche: Ahnen was sein könnte.

Wolfgang Mennel